Meister fallen nicht vom Himmel

Ich möchte etwas können… Nämlich ganz viele Fremdsprachen sprechen, ohne diese vorgängig erlernen zu müssen. Am liebsten hätte ich eine Fernbedienung. Damit könnte ich dann auf Knopfdruck die Sprache auswählen, die ich gerade sprechen und verstehen möchte. Spanisch, Englisch, Französisch, Italienisch etc. Tja, wenn es doch nur so einfach wäre. Meister fallen bekanntlich nicht vom Himmel… Und ohne dass ich eine Fremdsprache mit Neugier, Freude und einem gewissen Fleiss erlerne, werde ich sie wohl auch nie sprechen. An dieser Stelle seien die Ausnahmen erwähnt, die es immer wieder gibt. Ein paar wenige Naturtalente, bei denen Neugier und Freude ausreicht und die ohne grossen Fleiss ihre Ziele erreichen, sind sicher zu finden. Aber diese sind in der Minderheit. Alle anderen Menschen müssen üben, üben, üben, um in einer Disziplin voran zu kommen. Und genauso ist es auch, wenn man sich z.B. entscheidet, eine Kampfkunst zu erlernen. In meinem Fall war dies vor 20 Jahren „Ju-Jitsu“. Ich war fasziniert von diesen harmonischen und doch wirkungsvollen Bewegungsabläufen und wusste, dass ich das auch können will.

Als ich mit Jiu begonnen habe, liessen meine Koordination und Kondition sehr stark zu wünschen übrig. Sport war bis zu diesem Moment eher ein Fremdwort für mich bzw. die damit gemachten Erfahrungen waren mit schlechten Gefühlen verbunden. Im ersten Jiu-Probetraining kam ich nicht nur konditionell komplett an meine Grenze, auch die Bewegungsabläufe waren mir fremd. Ich konnte zu diesem Zeitpunkt kaum einen Ball fangen (in meiner Jugend sind mir wirklich ganz viele Bälle an den Kopf geflogen, ich war motorisch nicht sehr geschickt). Im Jiu sollte ich jetzt aber komplexe Techniken sowohl mit meiner starken Seite (ich bin Rechtshänderin) wie auch mit meiner schwachen Seite (links) ausführen. Bei den anderen hat alles so einfach ausgesehen. Ich konnte die vorgezeigten Techniken jedoch kaum umsetzen. Neben den bereits beschriebenen Schwierigkeiten sei an dieser Stelle auch noch der schlimme Muskelkater erwähnt. Am Tag nach dem Training konnte ich jeweils kaum noch aus dem Bett kriechen. Aber ich wollte unbedingt Jiu lernen, und bei mir sollte es genauso gut aussehen wie bei den anderen. Ich wollte ein kleiner Steven Seagal, Jean-Claude Van Damme, Walker Texas Ranger (einfach alles in weiblicher Form) sein. Mir blieb nichts anderes übrig, als fleissig die Trainings zu besuchen und zu lernen. Und siehe da, plötzlich wurde die Koordination besser, und sogar das Fangen von Bällen im Turnunterricht hat auf einmal funktioniert J. Auch die Kondition wurde besser, und der Muskelkater nahm ab.  Diese Erfolge zeichneten sich jedoch nicht über Nacht ab. Es dauerte ein paar Jahre, bis ich für mich sagen konnte, dass sich der Fleiss gelohnt hat, und ich mich Steven Seagal und Co. ein wenig näher fühlte. Doch auch nach 20 Jahren Jiu gibt es noch so unglaublich viel, das ich lernen und optimieren kann. In unserer schnelllebigen Zeit bleibt man oftmals nicht an etwas dran, wenn der Anfang harzig ist. Die Medien zeigen uns gerne die wenigen Ausnahmetalente, die ohne grossen Fleiss und Aufwand zum Erfolg gekommen sind. Ich denke, dass es im Jiu fast allen Anfängern ähnlich ergeht wie mir damals, wenn sie das erste Mal in unserem Dojo sind. Man vergleicht sich am Anfang gerne mit Mitgliedern, die diesen Sport schon jahrelang ausüben, und denkt, „das lerne ich nie“.

Mein Fazit: Meister fallen gewöhnlich nicht vom Himmel. Jeder, der etwas Neues lernen will, muss neben Neugier und Freude auch eine grosse Portion Durchhaltewille, Frustrationstoleranz und im Jiu zudem auch eine gesunde Portion „Schmerzfähigkeit“ mitbringen. Um Meister zu werden, muss man unzählige Male jemanden geworfen, sich x-Mal aus exakt demselben Würgeangriff befreit und auch einige blaue Flecken eingesteckt haben. Man kann jede einzelne Technik nicht oft genug ausgeführt haben. An den aufsteigenden Gurtfarben und an den Mitgliedern, die man für ihre Fähigkeiten bewundert, kann man erkennen, wie sich der Fleiss im Jiu auszahlt. Übrigens kann man sich von den Filmen mit Steven Seagal, Jean-Claude Van Damme oder Walker Texas Ranger durchaus inspirieren lassen und neue „Abwehrtechniken“ abschauen J.

Simone

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